Nach dem Kollaps von Lehman Brothers im Herbst 2008 stand das globale Finanzsystem vor dem Zusammenbruch. Es wurde von den Notenbanken gerettet. In einer koordinierten Aktion haben sie den Banken unbegrenzt Liquidität zur Verfügung gestellt und damit den Regierungen Zeit für dringend notwendige Reformen erkauft. Doch diese Zeit wurde nicht genutzt. Im Gegenteil haben die traditionellen Industriestaaten sich seit der Krise weiter in einem gigantischen Ausmaß neu verschuldet. 2017 wird die Verschuldung in der Euro-Zone über 10 Billionen Euro erreichen, nach circa 6 Billionen Euro vor der Krise – ein Anstieg von über 60 Prozent.

Doch anstatt diesem Missbrauch über höhere Zinsen einen Riegel vorzuschieben, haben die Zentralbanken diese Entwicklung noch unterstützt. Über QE-Programme* und heiß laufende Notenpressen wurden die Zinsen nach unten gedrückt. Über den Ankauf von Anleihen in vierstelliger Milliardenhöhe stieg man direkt oder indirekt in die Staatsfinanzierung ein, auch wenn dies öffentlich natürlich immer dementiert wurde. Jeder Anreiz für die Durchführung von Reformen blieb zwangsläufig auf der Strecke. Die Notenbanken wollten damit die Konjunktur ankurbeln. Die Verbraucher sollten dank der niedrigen Zinsen mehr konsumieren, die Unternehmen mehr investieren und die Inflationsrate sollte auf zwei Prozent steigen, um den Staaten die schrittweise Entwertung ihrer Schulden zu ermöglichen. Dafür nahm man sogar die Einführung von Negativzinsen in Kauf, ein beispielloses Experiment in der Finanzgeschichte. Doch keines dieser Ziele wurde erreicht. Die Konsumenten müssen mehr sparen, um ihre Altersvorsorge zu gewährleisten, die Unternehmen – insbesondere in den USA – nehmen zwar zinsgünstige Kredite auf, aber nicht um zu investieren, sondern um eigene Aktien zurückzukaufen und so wertvolles Eigenkapital zu vernichten. Und die wirtschaftliche Entwicklung ist geprägt durch „null Zinsen, null Inflation und null Wachstum“, wie wir schon vor Jahren prognostiziert haben.

Heute stehen die Notenbanken vor dem Offenbarungseid, auch wenn sie dies natürlich nie zugeben würden, sondern weiter unverdrossen Erfolgsmeldungen verbreiten. Immer deutlicher werden sich in nächster Zeit die verheerenden Auswirkungen der Negativzinsen zeigen. Die Sparer, die Versicherungen und die Pensionskassen wissen nicht mehr, wie die drohende Altersarmut verhindert werden kann. Am schlimmsten trifft es aber die Banken, denen eh die Geschäftsmodelle abhanden kommen. Dazu wuchert eine beispiellose Regulierungswut (Basel I, II, III, IV etc.). Die Negativzinsen sind der letzte Sargnagel, der das klassische Kreditgeschäft eliminiert. In ihrer Verzweiflung fordern die Notenbanker jetzt, dass die Staaten Fiskalprogramme auflegen sollen, um Investitionen in Infrastruktur zu finanzieren – natürlich über die Aufnahme weiterer Schulden. Ein völlig untaugliches Mittel, zumal entsprechende Projekte bei der heutigen Bürokratie eine Planungsphase von mehr als zehn Jahren benötigen.

Was ist zu tun? Die EZB sollte ihre Negativzinspolitik sofort beenden und das Tapering** einleiten. Und statt in zinslose Anleihen zu investieren, sollte sie lieber in großem Stil Aktien kaufen und damit in Sachwerte und Produktivkapital investieren. Wie Sie wissen, eine alte Forderung von uns. Dieser Vorschlag findet inzwischen immer mehr Anhänger. So hat jüngst Giacomo Corneo, Finanzprofessor an der Freien Universität Berlin, seine „eigene“ Idee gegen die drohende Altersarmut entwickelt (siehe Welt am Sonntag vom 6. November 2016). Ein milliardenschwerer Staatsfonds soll her, der in Aktien investiert und von der politisch unabhängigen Bundesbank gemanagt wird.

Um wirklich erfolgreich zu sein, müsse der Fonds eine Größenordnung von einer Billion Euro erreichen und schrittweise aufgebaut werden. Zu etwa drei Vierteln soll der Fonds mit neuen Schulden finanziert werden, zu einem Viertel mit den Einnahmen aus einer reformierten Erbschaftssteuer. Alle Bürger sollen von den Gewinnen des Fonds profitieren, da diese ihrer individuellen Altersvorsorge gutgeschrieben würden.

In anderen Ländern ist man schon weiter. So hat die Bank of Japan in den letzten dreieinhalb Jahren 38% aller Staatsschulden aufgekauft. Unter anderem von Pensionskassen, damit diese Aktien kaufen können. Wohl wissend, dass mit zinslosen Staatsanleihen keine solide Altersvorsorge mehr gewährleistet werden kann. Der norwegische Staatsfonds, der zur Altersvorsorge gegründet wurde, legt sein Vermögen von 880 Mrd. $ zu 60% in Aktien und zu 40% in Anleihen an. Eine Regierungskommission hat jetzt vorgeschlagen, die Aktienquote auf 70% zu erhöhen, zulasten der Bonds. Sie hält das damit verbundene Risiko für langfristige Anleger für völlig überschaubar. Das progressivste Konzept verfolgt die Schweizer Notenbank. Sie druckt Geld und kauft damit ausländische Währungen, um den Franken stabil zu halten. Ein Teil dieser Devisen legt sie in Aktien an. Der Bestand an US-Aktien liegt inzwischen bei 62 Mrd. $ (!). Insgesamt hat sie bereits für über 130 Mrd. $ Aktien erworben und kauft weiter zu. Ein einfacheres System der Vermögensbildung kennen wir nicht. Von einer solchen pragmatischen Lösung ist die EZB noch meilenweit entfernt. Im Gegenteil hat sie sich in eine ganz prekäre Sackgasse manövriert. Durch entsprechende Regulierungsmaßnahmen hat sie Banken und Versicherungen quasi gezwungen, in die Staatsfinanzierung einzusteigen. Es ist schon fragwürdig, warum Staatsanleihen weiterhin als risikolos eingestuft werden und kein Kapital zu hinterlegen ist, während für Aktien 35% fällig werden. Als Folge haben zum Beispiel deutsche Versicherungen 80% ihrer Anlagen in Anleihen investiert. Die Deutschen haben ein Drittel ihrer Ersparnisse den Versicherungen zur Geldanlage anvertraut. Vor diesem Hintergrund kann die EZB eine Zinswende nur ganz behutsam einleiten, um eine Katastrophe zu vermeiden. Denn wenn die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen in den nächsten zwölf Monaten nur leicht um zwei Prozent steigen würde, hätte dies Kursverluste von 17% (!) zur Folge. Ein Crash an den Rentenmärkten wäre die Folge. Na dann, viel Spaß!

*Anleihe-Kaufprogramm

** Anleihe-Kaufprogramm reduzieren